Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn die Bahn nicht fahren würde. Wenn die Leute einfach nur dastünden, dasäßen und einfach mal nichts täten. Wie wäre das wohl? Alles wäre ganz ruhig und still.
Dann ist es soweit. Tiefstack. Die Bahn hält, und der magische Moment, wenn die Türen einfach geschlossen bleiben und der Motor schweigt, tritt ein. Dann kann man ein Sandkorn fallen hören. Dann ist Ruhe und Frieden auf Erden. Und die Sonne bricht hinter einer dicken Wolkenwand hervor und wärmt die geschundenen Seelen. So schön kann die Welt sein.
Trotzdem verpasse ich meinen Bus und muss durchfahren bis Bergedorf, um einen anderen zu bekommen (da muss immer so ein Behinderter im Rollstuhl einsteigen, beziehungsweise einrollen, und das ist dann auch schon das Problem, dass der einrollen muss, weil dafür jedes Mal der Bahnfahrer aussteigen und erstmal die ganze Bahn für so eine Einrollbrücke umbauen muss; dann ist ja klar, dass sich das darauffolgende Leben um unbestimmte Zeit verzögert – mein Gott, ich fühle mich schlecht, denn es geht mir so gut, aber ich rege mich über einen Krüppel im Rollstuhl auf, und es ist ein Krüppel, also nicht nur so eine Redewendung, der kann seine Hände kaum noch bewegen, weil die und die Finger zu allen Seiten wegzeigen, komm lass uns beten, in einem anderen Leben geht es dem wieder besser, oder vielleicht schon früher). Ich will mich aufregen, aber der Frieden säuselt mir zu, es bringt doch nichts. Und so sitze ich auf dem größten Busumschlagplatz der Welt – die Busse passieren meine Station im Zehntelsekundentakt – und lasse mich von der Sonne berühren.
Zehn Stunden und achtquadrilliarden Busse später (kommt das hin?, ich war nie besonders stark in Mathe) kommt endlich mein Bus mit der vielversprechenden Nummer 333. Das wird bestimmt super. Aber vorher rollt wieder ein Behinderter über die Einrollbrücke, denn er oder sie besser gesagt, ist behindert. Auch diesmal muss wieder der ganze Bus umgebaut werden (in welcher Welt leben wir eigentlich, wenn für behinderte Menschen erst der gesamte Bus umgebaut werden muss?). Ich frage mich wieder, ob die mir Leid tun soll, aber das wäre doch diskriminierend. Natürlich kann die sich bestimmt auch was Besseres vorstellen (schließlich ist sie ja behindert), aber noch geht es halt nicht mit Cyborgs. Außerdem freut sie sich, dass die Sonne scheint. Und das ist doch, was zählt.
Dann geht die Sonne zum dritten Mal auf. Denn ein junges Mädchen mit roten, langen Haaren steigt ein. Sie setzt sich ganz vorne hin und schaut verlegen zur Seite. Sie hat Augen, die sehen den Himmel. Sie sieht sehr gut aus – vielleicht ist sie der Himmel (denn sie ist ja auch die Sonne). Ich muss an Nabokov denken. Vielleicht ist es auch Sodom und das andere und so (Gomorra oder wie der heißt). Die kann da ja auch nichts dafür, dass sie ungewollt Weltliteratur repräsentiert.
* Die macht auch noch gute Musik.