Kontinentaldrift


Kommt eine rein, das kann man nicht glauben. Die ist mindestens zehntausend Jahre alt und dabei 32. Die hat sowas von arschkohlenwasserstoffblonde Haare mit Barbielocken (hat die überhaupt Locken? – so furchtbar kleine eben) dran, da wird einem schlecht. Falten im Gesicht geben Charakter, sagt man. Ja, Männern vielleicht (vielleicht), Frauen nicht. Stichwort Marianengraben. Kaputzenpullover, löchrige Jeans – ich kann nicht mehr. Sie begleitet ihre Horde. Kinder. Drei oder viertausend an der Zahl, es ist nicht zu fassen. Die sind alle genauso blond. Das muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen.
»Sahaja, Jolina!«, die ruft das wirklich. »Komm, kommkomm!« Die ruft die wie Tauben oder so. Wie doofe Tauben – komm, kommkommkommkomm.
Nein, nein, ich kneife mich, schlage mich, schmeiße mich aus dem Fenster des Busses und laufe zurück – es nützt nichts, alles tut weh, und ich träume nicht. Das kann sich kein Mensch vorstellen! Die heißen allen Ernstes so. Die Wollnys sind ein Scheiß dagegen! Die tun mir so Leid, dass ich am liebsten alle mit nach Hause nehmen würde. Nein.
Doch. Die braucht Jesus.

Sie und er. Die Geschichte ist so alt wie die Menschheit. Sie will ihn, er aber nicht. Kontinentaldrift. Was gibt es da nicht zu verstehen? Aber sie versteht es nicht. Sie grabbelt die ganze Zeit an ihm rum. Tätschelt ihn, streichelt ihn, himmelt ihn an, hört Kopfhörer mit ihm – HALLO, merkst du noch was? Er will nicht! Aber sie will! Und das hört nicht auf. Immer wieder versucht sie es, und er dreht sich gelangweilt weg. Sieht ganz gut aus, der Typ. Nur die Haare, die sind ein bisschen wie die von Syndrome, dem Bösewicht der Unblaublichen. Aber böse ist der nicht. Nur seine Freundin. Wie kann die nur? Die sieht auf den ersten Blick ganz gut aus. Aber nur auf den ersten. Dann wirkt sie wie ein kleines Ferkel (um es mal nett zu formulieren). Aber die kann da ja auch nichts für. Die sollte nur endlich aufhören, diesen gutaussehenden Kerl anzumachen. Der kann bald nicht mehr.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Einer steigt ein, der hat Stil. Welche Erlösung. Ist das schön. Ein kariertes Hemd, eine Weste, passende heilschlammfarbene Hose und dazu eine Lederjacke. Das ist wirklich gut. Nur die Schuhe sind nicht ganz optimal – zu schick, zu lackiert. Das trägt man doch lieber zu einem Frack.

Ein Literat. Ich weiß es auch nicht, vielleicht ein Autor, Dichter oder Schreiber. Dergleichen. Er hat sich die Haare schneiden lassen. Undercut. Auf einmal sieht der richtig gut aus. Schon zwei gutaussehende Menschen im Bus, das ist gut. Der Rest von ihm ist vernachlässigt, aber es passt. Hat Wichtigeres im Kopf, als sich um Kleidung Gedanken zu machen. Weltliteratur zum Beispiel. Dostojewski oder James Joyce. Vielleicht schreibt er auch den Faust zu Boden.

Wie kann Körper und Gesicht so dermaßen weit auseinanderdriften (Stichwort Kontinentaldrift)? Die dreht sich um, und ich muss weinen (vor Trauer, um einen schönen Körper).