Der barmherzige Samariter


Abgenutzt, wasserstoffblond, Augensäcke bis auf den Boden. Ein Piercing durchbohrt das grobkörnige Gesicht. Er ist jung, kann eigentlich gar nicht sein, ist aber so, das sieht man einfach. Seine Kapuze ist von Pelz umsäumt. Der Pelz ist nicht echt, so sieht der nicht aus. Hat gesehen, dass ich ihn anstarre. Starrt zurück. Scheiße. Seine Augen verströmen eine wohlige Barmherzigkeit. Stichwort der barmherzige Samariter, Florian David Fitz. Schade, dass er weg ist. Ich hätte mich gerne noch ein bisschen bei ihm gewärmt.

»Nächstes Jahr, Digger, ich schwör, wenn Gott will und so, Alter, Digger, ich schwör!«
»Aber, aber…«
»Schwör du Fotze, Alter, ich werde sterben, Mann! Isso, da gibt’s nix zu sagen! Das kommt, von wegen!«, Stichwort Barmherzigkeit. Jesus ist mit dir. Und zwei so kleine, türkisfarbene Zwillinge auch. Weiß der Teufel, was die da wollen.

Der Bus fährt mir fast vor der Nase weg. Warum soll der bloß sterben? Eine riesige Frau erdbebt an mir vorbei, will unbedingt einen Sitzplatz. Ich habe keine Chance. Aber ich will auch nicht. Schließlich hat mich der barmherzige Samariter eines Besseren belehrt. Ruhe. Frieden. Liebe. Gönn ihr doch einfach mal den Platz. Vielleicht stirbt sie auch bald.
»Carola, Dennis, ihr habt lange nichts voneinander gewußt. Lange habt ihr einander gesucht. Und lange musstet ihr auf diesen Moment warten. Aber heute ist es Wirklichkeit geworden: Ihr habt euch gefunden und wollt gemeinsam die Pforten des diesseitigen Lebens hinterlassen, um euch nun endlich, mit voller Leidenschaft dem Tod widmen zu können.«, Kai Pflaume oder wie der heißt (der erfüllt doch immer so Wünsche, oder?).
»Ja, ja, das wollen wir!«, unisono.
»Und hier ist noch eine Überraschung. Als Ehrengast dürfen wir nun, meine Damen und Herren, den unvergleichlichen, den unverwechselbaren, den einzigartigen Tod begrüßen. Florian, du hier, das war ein Stückchen Arbeit. Aber es ist uns geglückt. Was möchtest du unserem Paar mit auf den Weg geben?«
»…«, ein eisiger Wind haucht durch den Saal, und alle sind tot.

So wird es also sein. Die beiden tun mir Leid, aber ich kann da ja auch nichts dafür. Kai Pflaume war noch nie so mein Fall. Die schöne Blonde kommt wieder rein. Sitzt weit weg. Wie schade. Und auch ihre Freundin ist nicht dabei. Und Y.T. habe ich auch lange nicht mehr gesehen. Herrje, ist das alles wieder schlimm. Dafür sind zwei blonde Kerle da. Na gut, die sehen auch nicht schlecht aus. Sind aber eineiige (hat jemals schon wer dieses Wort geschrieben?) Zwillinge. Beide dunkel, beide Stiefel, Apple-Kopfhörer (Earphones), Seitenscheitelundercut, Beine überkreuz, Röhrenjeans (kein Garant für Sex), Dubstep. Furchtbar. Unwort des Jahrtausends. Wer hört denn sowas? Muss man sich mal vorstellen, kann sich kein Mensch vorstellen. Spielen die ganze Zeit an ihren iPhones rum. Facebook, iGames (gibt es die Scheiße, ich kenne mich mit Spielen nicht so aus), und so weiter – ich glaube es nicht, die kennen sich gar nicht. Steigt der einfach aus, ohne ein Wort zu sagen. Das sind ja gar keine Zwillinge. Doch, das kann nicht sein.
Es waren einmal zwei Brüder, die sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Sie aßen gleich, sie tranken gleich, ihre Haare schienen gleich, und auch der Klang ihrer Stimme war gleich.
Doch es kam ganz anders.
Ach lassen wir das.